„Big Bang Bio“: Das Motto lieferte eine Steilvorlage. Bio boomt seit Jahren. Aber entfernt sich die Branche damit nicht auch immer schneller und weiter von ihrem Urknall, den ursprünglichen Ideen und Werten? Welche Werte sind das überhaupt, und kommen sie „da draußen“ an? Kann, soll, muss Bio weiter wachsen, und wenn ja, auf welchen Wegen?
Um solche Fragen zu diskutieren, kamen rund 120 Menschen aus der Biobranche zum diesjährigen Biolebensmittelcamp auf dem brandenburgischen Landgut Stober zusammen.
Dass es reichlich Stoff für Diskussionen gab, zeigte sich allein daran, dass mehr Sessionvorschläge eingereicht wurden, als in der verfügbaren Zeit untergebracht werden konnten. Auch so war der Sessionplan pickepackevoll. Denn selbst wenn das Biolebensmittelcamp vom Team um Wolfgang Falkner perfekt organisiert ist und wenig von dem improvisierten „Unkonferenz“-Charme anderer Barcamps hat, die zentrale Barcamp-Idee ist auch hier lebendig: Alle Sessions werden von den Teilnehmenden selbst vorgeschlagen und geleitet, sodass wirklich das auf Tapet kommt, was die Runde interessiert und umtreibt. Spontane Diskussion tritt an die Stelle ausufernder Powerpoint-Präsentationen – was allerdings auch heißt, dass mehr Fragen aufgeworfen als beantwortet werden.
Mitgenommen habe ich daher vor allem jede Menge Ideen, Fragen, Anregungen, besonders aus diesen drei Sessions:
Wahre Preise (Katharina Reuter, Unternehmensgrün)
Bio-Produzenten bewegen sich in einem unfairen Markt. Wenn nämlich die schädlichen Auswirkungen eingepreist würden, die bei der Herstellung von konventionellen Produkten entstehen, müssten die weit teurer sein als die nachhaltig produzierten. Allerdings lassen sich diese Schäden oft gar nicht einmal genau beziffern; es fehlen der Überblick, was auf allen Stufen der Wertschöpfungskette passiert, und es fehlen entsprechende Rechenmodelle. Und selbst wenn sich die höheren Kosten konventioneller Waren beziffern ließen: Die Schäden auf diese Weise abzubilden, würde sie ja nicht ungeschehen machen.
Muss es also bei der puren Information über schädlichen Folgen unseres Konsums bleiben? Das bringt wohl nicht viel: Die Risiken und Nebenwirkungen sind zu einem guten Teil ohnehin bekannt. Trotzdem gibt es eine Lücke zwischen Wissen (um die schädlichen Auswirkungen meines Konsums) und Handeln (nachhaltiger konsumieren). Die lässt sich vermutlich nur durch politische Konzepte überbrücken: Steuerpolitik, insbesondere Mehrwertsteuer; Kennzeichnung der Produktionsbedingungen (wie bei Eiern bereits geschehen); neue Rahmenbedingungen im Wettbewerbsrecht. Womöglich muss dazu die Lobbyarbeit auf europäischer Ebene verstärkt werden, denn manchmal führt nur Druck von der EU dazu, dass sich auf nationaler Ebene etwas verändert (so geschehen bei den von der EU abgemahnten überhöhten Nitratwerten in Deutschland).
Aber solange politische Lösungen auf sich warten lassen, bleibt nur, den Verbraucher*innen die nachhaltigen Produkte immer wieder schmackhaft zu machen. Und zwar im wahrsten Sinne des Wortes: Denn ausschlaggebend sind nicht informierte Vernunftgründe („Ich kaufe das, was für die Welt das Beste ist.“), sondern emotionale Entscheidungen („Ich will das!“).
Wertvoll kommunizieren (Till Deininger, Bioland)
Die Ausgangsfrage: Gelingt es der Bio-Branche eigentlich, ihre Werte (und damit den Mehr-Wert ihrer Produkte) nach außen zu kommunizieren? Je weiter sich Bio durchsetzt, desto stärker wird es auf einen gefühlten persönlichen Nutzen reduziert: „Ist gesünder.“ Oder: „Ist gesünder für mein Kind.“ Oder: „Schmeckt besser.“ Das greift nicht nur zu kurz, sondern macht die Branche auch angreifbar, sobald mal wieder eine Studie den individuellen gesundheitlichen Nutzen in Zweifel zieht.
Aber, um es mit einem von Bioland erfundenen Hashtag zu sagen: #natürlichgehtsumsganze. Eben nicht nur um individuelle Gesundheit, sondern auch um nachhaltige Produktion, um Bewahrung von Bodenfruchtbarkeit, um Tierwohl, um Unabhängigkeit der Landwirtschaft von den Agrar-Multis, um soziales Miteinander, um Biodiversität. Eine Herausforderung, das alles adäquat zu kommunizieren.
Hier ist immer wieder Storytelling gefragt, um diese Aspekte in spannende Geschichten und griffige Bilder zu übersetzen, die begeistern, statt zu überzeugen. Und schließlich sollen auch die Geschichten der Bio-Pionier*innen bewahrt werden – um das lebendig zu halten, was sie antrieb, nämlich der Wunsch nach Veränderung des gesamten Systems.
Regionalität konsequent zu Ende denken (Timo Kaphengst, Regionalwert AG Berlin-Brandenburg)
Alle reden von „regional“ – aber reden dabei wirklich alle über das Gleiche? Die Session zeigte, wie viele Fragezeichen schon bei der Definition von Regionalität bleiben. Gilt für Berliner*innen das als regional, was in der „Region Berlin-Brandenburg“ hergestellt wird, so können Schweizer*innen über eine dermaßen ausufernde Flächendefinition nur müde lächeln. Andererseits definiert sich Regionalität oft auch über eine gefühlte kulturelle Einheitlichkeit: Ein polnisches Produkt wird in Brandenburg womöglich nicht als regional wahrgenommen, obwohl es nur 20 km weiter hergestellt wurde. Regionalität, das meint oft noch viel mehr eine emotionale als eine geografische Nähe.
Damit verbunden ist gleichzeitig ein Qualitätsbegriff, der aber oft vage bleibt. Regionalität zu fördern heißt daher auch, die Kriterien klarzumachen, die hinter dem Produkt stehen. Das erfordert viel Kommunikation, möglicherweise neue Siegel, auf jeden Fall Aufklärung im Handel – und ganz praktisch gesehen jede Menge Geldmittel, um eine adäquate Infrastruktur mit Logistik, Lagerkapazitäten und Verarbeitern aufzubauen. Es verlangt aber auch, dass die Menschen ihr Essverhalten verändern: Es ist mit Regionalität eben nicht ohne Weiteres zu vereinbaren, den ganzen Winter hindurch Zucchini und Paprika zu kaufen.
Die Frage, die hier leider nur kurz angerissen wurde: Ist Regionalität denn wirklich das eindeutige Ziel? Wollen wir uns wirklich wieder auf das beschränken, was bei uns heimisch ist? Heißt das nicht auch, auf Weltoffenheit und Vielfalt zu verzichten? Und heißt es nicht auch, anderen Ländern und Regionen die Chance zu nehmen, ihre Waren bei uns zu vermarkten?
Das Gespräch fortsetzen
In so gut wie jeder Session hätte die Diskussion noch eine ganze Weile fundiert weitergehen können. Gesprächsstoff war jedenfalls reichlich vorhanden, auch in den Pausen und während der Abendveranstaltungen. Aber irgendwann war bei mir auch das Ende der Verarbeitungskapazitäten erreicht. Zum Glück sorgte das Rahmenprogramm zwischendurch immer wieder für Frischluft im Hirn – und damit meine ich nicht nur die Spaziergänge am See, die wegen des eiskalten Windes eher kurz ausfielen. Meine Eindrücke von der Besichtigung des Ökodorfs Brodowin habe ich im Blog Schmeckt nach mehr aufgeschrieben; Spaß gemacht hat auch die Improtheater-Vorstellung des Trios von Theatersport Berlin, die in ihre Szenen in den Sessions aufgeschnappte Phrasen einbauten („Fachhandelstreue: da steckt viel mehr dahinter!“). Und schließlich wurden wir natürlich auch kulinarisch bestens versorgt. Denn bei aller Ernsthaftigkeit, mit der über Werte und Politik diskutiert wurde: Im Grunde geht es beim Biolebensmittelcamp eben um Lebensmittel. Und damit um den Genuss.
Mit nach Hause genommen habe ich reichlich Food for thought. Und Appetit auf mehr. Ich würde mich freuen, wenn es nächstes Jahr wieder ein Biolebensmittelcamp gäbe.
Offenlegung: Am Biolebensmittelcamp konnte ich mit einem Bloggerticket kostenlos teilnehmen. Anreise, Unterkunft und Verpflegung habe ich selbst gezahlt.
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